There is no change without loss
Auf den ersten Seiten ihres Buches „Maybe you should talk to someone“ schreibt die amerikanische Psychotherapeutin Lori Gottlieb „We can‘t have change without loss“, es gibt keine Veränderung ohne Verlust. Als ich diese Zeilen zum ersten Mal las, zog sich instinktiv etwas in mir zusammen. Einerseits verspürte ich einen Widerstand in mir, denn ich möchte nichts verlieren, was mir möglicherweise lieb und teuer ist, damit es Veränderung geben kann. Andererseits wusste ich, auch wenn ich es zunächst nicht wahrhaben wollte, dass diese Aussage wahr ist. Denn ganz gleich, welche Entwicklungstheorie wir auch betrachten, seien es psychologische, wirtschaftliche, gesellschaftliche, institutionelle oder naturwissenschaftliche Erklärungsansätze für Veränderungen, in allen Fällen geht es im Wesentlichen darum, etwas Altes aufzugeben, damit etwas Neues entstehen kann.
Etwas oder jemanden zu verlieren, kann sich für uns im ersten Moment wie ein Rückschlag oder ein Tritt in die Magengrube anfühlen. Je bedeutender das Verlorene für uns, desto mehr nimmt es uns vermutlich mit. Möglicherweise steigen Angst, Trauer oder Wut ins uns auf. Vielleicht erheben wir Vorwürfe gegen andere oder uns selbst, klagen andere oder uns selbst an oder fragen uns unentwegt, wie wir den Verlust hätten abwenden können.
In manchen Fällen mögen wir in der Lage sein, präventive Maßnahmen zu ergreifen. Wenn wir beispielsweise dazu neigen, unseren Schlüssel zu verlieren, können wir diesen mit einem Tracker ausstatten. In anderen Fällen können wir den Verlauf beeinflussen, jedoch nicht kontrollieren. So können wir uns zum Beispiel bestimmte Kommentare oder Handlungen im beruflichen Umfeld verkneifen, um unseren Job nicht zu verlieren. Dann gibt es wiederum Fälle, auf die wir trotz aller Bemühungen und Anstrengungen weder Einfluss noch Kontrolle haben. Hierzu zählt beispielsweise der natürliche Tod. Auch wenn wir in allen drei Szenarien mehr oder weniger Handlungsspielraum haben, ist eines jedoch immanent: Der Verlust an sich.
Und doch ist dies nicht das Ende der Geschichte, denn wie uns die Natur lehrt, folgt auf Tod Leben und auf Altes Neues, wobei das Neue nie dem Alten entspricht. (Selbst einen verlorenen Schlüssel finden wir letztlich in einem veränderten Zustand wieder, da er zwischenzeitlich vielleicht dreckig wurde oder eingestaubt ist.) Im Grunde ist es ein Handel, den wir eingehen: Wir büßen etwas ein und erhalten dafür etwas anderes. Wenn wir beispielsweise gekündigt werden, verlieren wir unsere finanzielle Sicherheit, unser gewohntes Arbeitsumfeld, unsere Strukturen. Gleichzeitig gewinnen wir Freiheit, neue Gestaltungsmöglichkeiten und die Chance, neue Erfahrungen zu machen. Wenn wir Eltern werden, verlieren wir wiederum ein Stück unserer Freiheit und unseres Gestaltungsspielraums und werden gleichzeitig Zeug:innen eines einzigartigen Wunders.
Ausgehend von den Annahmen, dass
- Verlust zum Leben dazu gehört,
- wir in unserem Kontroll- und Einflussbereich beschränkt sind und
- letztlich lediglich unsere Haltung und unsere Entscheidungen in der Hand haben,
gibt es aus meiner Sicht zwei zentrale Fragestellungen, mit denen wir uns auseinandersetzen sollten, wenn wir unser Leben aktiv gestalten möchten:
- Wonach strebe ich? Was sind meine Ziele? Was ist mir wichtig? Nach welchem Zustand sehne ich mich?
- Was bin ich bereit dafür zu verlieren? Was ist der Preis, den ich bereit bin zu zahlen? Was bin ich bereit loszulassen, um zu wachsen?
Aus dieser Sicht ist der Verlust für mich eine Einladung, der Trauer Raum zu geben und gleichzeitig nicht darin zu verharren, sondern den Blick auf die Chancen des Abschieds zu richten und im Loslassen Frieden und Wachstum zu finden.
Weiterführende Literatur:
- Gottlieb, L. (2022). Maybe you should talk to someone. Scribe UK.
- Schwenner, L. (2020, März 27). Phasen einer Krise. quarks.de. https://www.quarks.de/gesellschaft/psychologie/phasen-einer-krise/