Eine Liebeserklärung an die Krise

Veröffentlicht am
24/10/23
Eine Liebeserklärung an die Krise
Autor:in
Saskia Sattler
Coach
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Gefühlt vergeht kaum ein Tag, ohne dass das Wort „Krise“ in einer Nachricht auftaucht. Es erscheint, als verwendeten wir den Begriff beinahe inflationär, um eine Störung im System zu beschreiben. Irgendetwas ist aus dem Takt geraten – sei es gesellschaftlich, politisch, wirtschaftlich, zwischenmenschlich, familiär oder in uns selbst. Letzteres wird in der Psychologie als psychosoziale Krise bezeichnet und als „Verlust des seelischen Gleichgewichts“ (Sonneck, 1997, S. 31) empfunden.

Ausgelöst wird diese Form der Krise entweder durch den Eintritt eines unvorhersehbaren Ereignisses, was zu Schock führen und damit eine sogenannte traumatische Krise hervorrufen kann, oder durch Unterbrechungen, womit wir im Verlauf unseres Lebens konfrontiert werden und die wir nicht auf Anhieb bewältigen können – typischerweise als Veränderungskrisen bekannt. Ob es zu einer Krise kommt und wie diese empfunden wird, ist zutiefst individuell. Als kleinster gemeinsamer Nenner kann herausgestellt werden, dass Krisen immer dann ausgelöst werden, wenn die betroffene Person sich von dem Ereignis oder der Veränderung so überwältigt und überfordert fühlt, dass sie in dem Moment keinen adäquaten Umgang damit findet. (Sonneck, 1997)

So weit, so gut – doch was hat das jetzt mit Liebe, Selbsterkenntnis und persönlichem Wachstum zu tun? Hierfür lade ich dich ein, mit mir in mein Jahr 2019 zurückzureisen. Damals arbeitete ich als Assistentin eines Ressortbereichsleiters für einen großen Versicherungskonzern. Auf dem Papier hatte ich es mit meinen 27 Jahren vergleichsweise weit geschafft. Mit einem Masterabschluss in der Tasche, diversen Praktika und Auslandsaufenthalten sowie umfangreicher politischer Erfahrung saß ich in einem halbwegs sitzenden Kostüm zurechtgemacht in der obersten Büroetage mit bester Aussicht. Meine Arbeitstage begannen früh, endeten spät und ließen kaum eine Minute zum Durchatmen.

Nachdem ich anfangs noch voller Elan, Enthusiasmus und Entschlossenheit war, verspürte ich nach und nach ein zunehmend ein ungutes Gefühl in mir aufsteigen. Meine Arbeit verfolgte mich in meinen Träumen und dominierte die Gespräche mit meiner Familie und meinem Freundeskreis. Sozial zog ich mich immer mehr zurück, Versagensgefühle sowie Niedergeschlagenheit verdrängten meine Lebensfreude und meine kreative Denk- und Arbeitsweise wich einem roboterähnlichen Abarbeitungsmodus. Immer häufiger bekam ich aus meinem Umfeld die Rückmeldung, dass meine Mimik mehr der eines Eisklotzes gliche und ich abgekämpft, müde und freudlos wirke.

Gedanklich kreiste ich zu dieser Zeit immer wieder um dieselbe Frage: „Wieso bin ich schon wieder zu schwach? Was mache ich nur falsch?“ Denn tatsächlich war mir dieser Zustand alles andere als fremd. Im Alter von 16 Jahren erlebte ich diesen zum ersten Mal, in den darauffolgenden Jahren kamen einige weitere davon hinzu. Immer wieder hatte ich mit unerklärlichen körperlichen Symptomen wie Magenschmerzen, Verdauungsproblemen, Schweißausbrüchen, Schwindel, Augenmigräne, Tinnitus und geschwollenen Lymphknoten zu kämpfen. Immer wieder machten sich Gefühle der inneren Schwere, Selbstzweifel, ja sogar eine regelrechte Selbstablehnung in mir breit. Während ich mich den körperlichen Symptomen bis zu diesem Zeitpunkt stets mit eiserner Disziplin widersetzt hatte, hatte ich den inneren Leidenskampf bereits als Teil meiner Persönlichkeit abgetan.

Und doch war da diese Frage mit diesem beinahe penetranten Ausdruck „schon wieder“, die sich mir wieder und wieder aufdrängte. Ohne einen konkreten Auslöser heute noch benennen zu können, entschloss ich mich, dem „schon wieder“ auf den Grund zu gehen. Denn ohne es genau zu wissen, war mir damals bereits bewusst, dass ich mich so lange in einer wiederkehrenden Schleife befände, bis ich mich mit der Frage wirklich auseinandersetzen würde.

Also begab ich mich auf die Suche nach professioneller Unterstützung und wurde bei einer Coach und Psychologin fündig, die ein Intensivcoaching anbot. Für mich klang dies damals nach einer vielversprechenden Option – ganz nach dem Motto „Einmal hin, alles drin“. Wenngleich mir die sechs Stunden Einzelgespräch sehr gut taten, so war mir nach den zwei Tagen doch ziemlich schnell klar, dass es für mein Anliegen keinen Quick Fix gab. Vielmehr hatte das Coaching den Stein ins Rollen gebracht. Das erkannte ich jedoch erst viel später, denn die Tragweite dessen war mir damals alles andere als klar und der Alltag holte mich ziemlich schnell wieder ein. Also schob ich die Gedanken um die neuen Erkenntnisse fürs Erste wieder beiseite und verlor mich erneut im beruflichen Hamsterrad, bis mir mein Körper eines Tages die rote Karte zeigte.

Mit Tinnitus, Schwindelanfällen, Kreislaufproblemen und Magenschmerzen stellte ich mich meinem Hausarzt vor, der mich auf Herz und Nieren untersuchte und testete. Als er mir verkündete, dass ich kerngesund sei, sackte ich wie ein häufig Elend in mir zusammen und brach vor ihm in Tränen aus. Es war der Moment, in dem ich mir zum ersten Mal in meinem Leben eingestand, dass ich mich seit meiner Jugend immer mehr von mir selbst entfernt hatte und nun vor einem Abgrund stand. Mein Handeln und Verhalten im Außen passte nicht mehr zu meinem Erleben und Sein im Innen. Ich hatte eine Maske aufgesetzt und mich in ein Korsett gezwängt, welches ich über die Jahre immer enger schnürte und mir schließlich die Luft zum Atmen nahm. Der Psychotherapeut Carl R. Rogers beschrieb diesen Zustand als Selbstentfremdung – treffender kann man es aus meiner Sicht kaum benennen.

„I didn't know why I was going to cry, but I knew that if anybody spoke to me or looked at me too closely the tears would fly out of my eyes and the sobs would fly out of the throat and I'd cry for a week.“ – Sylvia Plath, The Bell Jar

Der Arzt schrieb mich mit sofortiger Wirkung krank und ich drückte zum ersten Mal in meinem Leben wirklich auf Pause. Es folgten Tage, in denen ich nichts anderes tat, außer stundenlang aus dem Fenster zu blicken, lange Spaziergänge zu unternehmen und vor allem viel zu weinen. Nachdem ich mich ein wenig gefangen hatte, folgte die zweite Einsicht: Allein schaffe ich es nicht. Wenn ich wirklich etwas ändern möchte, brauche ich professionelle Unterstützung. Mit ungeheurem Glück fand ich sehr schnell einen Psychotherapeuten, der mich aufnahm.

Gemeinsam mit seiner Hilfe sowie der liebevollen Unterstützung meiner Familie und meines Partners öffnete ich langsam die Tür zu meinem Innenleben und stieg Schritt für Schritt in die Tiefen meines Seins hinab. Jede Stufe hatte ihre eigene Geschichte, offenbarte alte Wunden und hielt vor allem neue Erkenntnisse bereit. Während die Stufen anfangs sichtbar und bereits ein wenig abgenutzt waren, wurden sie mit der Zeit immer schwerer zu sehen, sodass jeder Tritt gleichzeitig auch ein Schritt ins Unbekannte war. So ungewiss, unsicher, beängstigend, beschämend und schmerzhaft es auch war, ging ich dennoch weiter und sammelte mehr und mehr Puzzlestücke über mich, bis ich schließlich ein Bild von mir selbst hatte.

„Die Depression ist gleich einer Dame in Schwarz. Tritt sie auf, so weise sie nicht weg, sondern bitte sie als Gast zu Tisch und höre, was sie zu sagen hat.“ – Carl Gustav Jung

Als ich das Bild von mir betrachtete, stellte ich fest, dass ich es in den Tiefen meines Kellers ganz schön hatte verstauben und verkommen lassen. Es war also höchste Zeit für eine Restauration und für die Suche nach einem geeigneten Platz, wo es richtig zur Geltung kommen kann. Und so packte ich es ein, stieg die ganzen Stufen wieder hinauf und machte mich an die Arbeit. Heute arbeite ich sozusagen in einem offenen Atelier mit Dauerausstellung an meinem Bild. Jede:r, die:der mag ist eingeladen, mein Bild und meine Arbeit daran zu betrachten.

Diesen Prozess des Ab- und Aufsteigens beschrieb der polnische Psychotherapeut Kazimierz Dąbrowski als positive Desintegration, der amerikanische Psychotherapeut Carl R. Rogers sah diesen als Teil der Selbstaktualisierungstendenz des Menschen und beide vertraten die Ansicht, dass Krisen immer auch Chancen sind. Ich gehe sogar noch Schritt weiter und sage: Ich liebe die Krisen meines Lebens, denn wie in jeder guten Beziehung braucht es Streit und Reibung, damit Wachstum und Entfaltung möglich werden. Menschen, auf diesem Weg und bei diesem Schritt zu unterstützen, ist der Grund, warum ich re:Source Coaching gegründet habe.

„Ich finde immer mehr meine Werte und heraus, was ich wirklich brauche, was mir guttut. Und stelle fest, dass manches im Außen gar nicht dazu passt. Und dann ist die Frage, was ich dennoch weiterführen möchte oder eben nicht mehr.“ – Claudia Hildebrandt

Weiterführende Artikel zu den genannten Theorien

  • Dabrowski, K. (1964). Positive disintegration. Little, Brown.
  • Rogers, C. R. (1964). Toward a modern approach to values: The valuing process in the mature person. The Journal of Abnormal and Social Psychology, 68(2), 160–167. https://doi.org/10.1037/h0046419
  • Sonneck G (Hg) (1997) Krisenintervention und Suizidverhütung. 4., überarb. u. erw. Aufl. Wien, Facultas.

Literaturempfehlungen zum Thema

  • Bucay, J. (2017). Drei Fragen: Wer bin ich? Wohin gehe ich? Und mit wem? (S. von Harrach, Übers.; 7. Auflage: Mai 2018). Fischer Taschenbuch.
  • Frankl, V. E. (2018). trotzdem Ja zum Leben sagen: Ein Psychologe erlebt das Kon-zentrationslager. Penguin Verlag.
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